Diagnostik der zentralen Fehlhörigkeit und deren Verläufe in der Hörwahrnehmungstherapie

Arbeitstagung Auditive Wahrnehmung vom 20. Mai 2000 in Sozialpädiatrischen Zentrum Ludwigsburg

W. Lambeck und Margo Lambeck

Dr. med. Wolfgang Lambeck
Praxis für Phoniatrie, Pädaudiologie und Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Stimm- und Sprachstörungen,
Parkstraße 41, 41061 Mönchengladbach
Margo Lambeck
Logopädische Praxis für Stimm-, Sprach-, Sprech-, Schluck- und Hörwahrnehmungsstörungen,
Parkstraße 41, 41061 Mönchengladbach


Einleitung

Die Abklärung und Habilitation bzw. Rehabilitation von peripheren und zentralen Hörproblemen ist die grundlegende Aufgabe einer pädaudiologischen Einrichtung. Es wird von den Eltern berichtet, dass Probleme beim Zuhören, Wahrnehmen und Verstehen von Hörinformationen bestehen. Die Eltern insbesondere beklagen, dass Aufforderungen nicht beachtet werden. Von schulischer Seite wird bemängelt, dass die Kinder Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben sowie auch Probleme durch Verwechslung von Buchstaben haben. Es sind häufig Kinder mit Teillleistungsstörungen und mit konsekutiven Schulleistungsprobleme bzw. Schulprobleme allgemeiner und spezieller Art. Die Auffälligkeiten können zusammen gefasst werden: - Schulische Probleme (Lernbehinderungen, Lese-/Rechtschreibschwächen, Konzentrationsproblemen)

  • Gedächtnisstörungen
  • Sensorische Integrationsstörungen
  • Verhaltensauffälligkeiten
  • Sprachentwicklungsprobleme und deren Restsymptomatik

Die Anzahl dieser Fragestellungen steigt in einem deutlichen Maße an und macht somit eine differenzierte Diagnostik notwendig. Nicht allein eine Diagnostik sondern insbesondere auch die Hilfestellung für die Eltern ist dringend notwendig. Therapie ohne Diagnostik ist unwissenschaftlich und Diagnostik ohne Therapie ist grausam.

Grundvoraussetzung für die Abklärung einer zentralen Fehlhörigkeit ist der Ausschluss einer peripheren Hörminderung. Uttenweiler [4], [5] und [6] berichtete von 10 Prozent entdeckten peripheren Hörminderungen im Krankengut, welche zur Abklärung einer zentralen Fehlhörigkeit in dem phoniatrisch-pädaudiologischen Zentrum Heidelberg vor gestellt wurden. Meiner Beobachtung nach, finden sich in meinem Patientengut höhere Zahlen. 35 Prozent dieser mit gleicher Frage vorgestellten Patienten zeigten eine periphere Hörminderung. Insbesondere unter Berücksichtigung der Tatsache, dass eine periphere Hörminderung häufig als Ursache für eine zentrale Fehlhörigkeit gesehen werden muss, ist die Bedeutung des Ausschlusses einer zentralen Fehlhörigkeit nicht hoch genug zu bewerten (Problematik der negativen Hörbilanz).

Definition der American Association of Hearing and Bioacoustics (ASHA)

Hiernach werden unter der zentral-auditiver Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung( central auditory processing disorders =CAPD) Störungen verstanden, die für die Störungen der folgenden psychoakustischen Leistungen verantwortlich sind:

  • zeitliche Ordnung (Ordnungsschwelle)
  • zeitliche Maskierung und Integration
  • zeitliche Aspekte des Hörens einschließlich zeitlicher Auflösung
  • auditive Wahrnehmung bei konkurierenden Signalen
  • auditive Wahrnehmung bei reduzierten akustischen Signalen
  • Schalllokalisation und -lateralisation

Das menschliche Hören hat nicht die Aufgabe Frequenzen zu analysieren oder Lautstärken in Schwellennähe zu diskriminieren. Hauptaufgaben ist bei mittlerer Lautstärke Veränderungen dynamischer Art in Amplitude, Frequenz und Zeit zu verarbeiten um Sprache zu erkennen. Das "Zeitanalysesystem" (Spreng 1984) muss von den Menschen erzeugte Geräusche als Sprache erkennen. Nach Ablauf einer Geräusch-Lautfolge muss ein gesprochenes Wort erkannt werden. Das Ohr hat im Gegensatz zum Auge nicht die Möglichkeit mehrfach wahrzunehmen.


Diagnostik bei Verdacht auf eine zentrale Hörstörung:

  1. Ärztliche Anamneseerhebung mit HNO-Status
  2. Audiologische Diagnostik einschließende logopädische Diagnostik
    1. periphere Hördiagnostik - Tympanogramm mit ipsi- und kontralateraler Stapediusauslösung
      • seitengetrenntes Reintonaudiogramm mit Luft- und Knochenleitung
      • seitengetrenntes Sprachaudiogramm (altersabhängig Mainzer/Göttinger/Freiburger)
      • Transitorische otoakustische Emissionen
      • ggf. Ableitung früher akustisch evozierter Hirnstammpotentiale (BERA)
    2. zentrale Hördiagnostik
      • Unbehaglichkeitsschwelle
      • Sprachaudiogramm im Störschall (Nutzschall 65 dB/ Störschall ansteigend von 60 bis 70 dB)
      • Testung der Ordnungsschwelle [8] [9]
      • Rhythmische Differenzierungs-Probe nach Breuer-Weuffen
      • Testung der auditiven Analyse und Synthese ggf. auch PET
      • Testung Hörmerkspanne für Zahlen, komplexe Sätze, Mottier, Kurzgeschichte
      • Testung der Phonemdiskrimination z.B.: Phonematische Differenzierungs-Probe nach Breuer-Weuffen, Bremer-Laut-Diskriminations-Test BLDT
      • Dichotisches Hören nach Uttenweiler[]/Feldmann
      • Richtungshören (Testung in der Regiometrie)
  3. Entwicklungsdiagnostik Entwicklungsdiagnostik (ggf. S.O.N., HAWIK)
  4. Ausschluss einer peripheren Hörminderung durch:
    1. Tympanogramm mit ipsi- und kontralateralen Stapediusreflexen
    2. Reintonaudiogramm mit Luft und Knochenleitung
    3. Sprachaudiogramm
    4. TEOAE
    5. BERA

Material und Methode

Im Zeitraum von Januar 1999 bis April 2000 wurden 38 männliche und weibliche Patienten im Alter von:

4 3/4 bis 13 Jahren, welche eine zentrale Fehlhörigkeit zeigten, standardisiert vor und nach einer standardisierten Behandlungsmethode untersucht. Der Altermedian lag bei 8,3 Jahren. Die Kontrollgruppe bestand aus 10 Kindern ohne Sprach- und Hörproblemen in gleicher Weise untersucht. Alle 10 Kinder waren wegen einer myofunktionellen Störung in logopädischer Behandlung. Weitere 81 Patienten befinden sich zur Zeit in der Hörwahrnehmungstherapie mit apparativen Hilfsmitteln unter logopädischer Anleitung. Vor und nach der eingeleiteten Hörwahrnehmungstherapie wurde eine eingehende audiologische, logopädische und HNO-ärztliche sowie phoniatrie-pädaudiologische Untersuchung durchgeführt. Kinder mit einer peripheren Hörminderung sowie Erkrankungen des Mittel- oder Innenohres waren ausgeschlossen. Die Leistungen der zentralen Hörverarbeitung wurden anhand der Testung der Ordnungsschwelle (Messanordnung nach Warnke mit Brainfit der Firma Audiva), Überprüfung der Hörmerkspanne, der Phonemdiskrimination, der Rhythmusmustererkennung, des Richtungshörens, der Unbehaglichkeitsschwelle und des dichotischen Hörens.


Ergebnisse

Ordnungsschwelle:

Bei allen getesteten und therapierten Kindern mit einer zentralen Fehlhörigkeit zeigten sich vor der Hörwahrnehmungstherapie Auffälligkeiten in der Ordnungsschwelle (100 Prozent). Nach der Hörwahrnehmungstherapie fanden sich bei 71 Prozent der Kinder eine deutliche Verbesserung der Ordnungsschwelle.

Der Vergleich mit der Kontrollgruppe zeigt, dass das Ergebnis hochsignifikant ist.

Ordnungsschwelle

Kinder mit zentraler Fehlhörigkeit N=38

VerbesserungVerschlechterungUnverändert
27=71,1% 1=2,6% 10=26,3%
Kontrollgruppe N=10
VerbesserungVerschlechterungUnverändert
2=20% 1=10% 7=70%
  • In der Gruppe der Kinder unter sechs Jahren zeigte sich bei allem 4 Patienten vor der Therapie eine pathologischen Ordnungsschwelle. Nach Abschluss der Hörwahrnehmungstherapie 3 Patienten in dieser Gruppe dem altersentsprechenden Mittelwert der Ordnungsschwelle von 3-30 ms (Spitznagel und Macek [3]
  • In der Gruppe der Kinder zwischen sechs und zehn Jahren waren vor der Therapie sechs Kinder auffällig und 12 pathologisch bezüglich der Ordnungsschwelle. Nach der Therapie zeigte sich bei einem Kind ein auffälliger Wert, bei einem Kind ein pathologischer Ordnungsschwellenwert, bei 4 Kinder zeigte sich ein Mittelwert und bei elf Kindern einen deutlich besseren Wert als der Mittelwert.
  • In der Gruppe der Kinder über zehn Jahre hatten neun Kinder einer pathologischen Ordnungssschwellenwert vor der Therapie. Nach der Therapie zeigte sich bei vier Kindern ein auffälliger bis pathologischer Wert und bei fünf Kindern einen deutlich besseren Wert als der Mittelwert.
Hörmerkspanne:

Die Hörmerkspanne verbesserte sich in 76 Prozent und blieb unverändert in 23,6 Prozent der Fälle

Eine Verschlechterung trat nicht auf. 18 Patienten (47%) erreichten einen Normalwert.

Hörmerkspanne

Kinder mit zentraler Fehlhörigkeit N=38

VerbesserungVerschlechterungUnverändert
29=76,4% 0=0% 9=23,6%
Kontrollgruppe N=10
VerbesserungVerschlechterungUnverändert
1=10% 1=10% 8=80%
Phonemdiskrimination:

76 Prozent der Patienten zeigten eine hochsignifikante Verbesserung des Lautdifferenzierungsvermögens. Bei 24 Prozent der Kinder mit auditiver Wahrnehmungsstörung zeigte sich keine Beeinflussbarkeit.

Phonemdiskrimination

Kinder mit zentraler Fehlhörigkeit N=38

VerbesserungVerschlechterungUnverändert
29=76,4% 0=0% 9=23,6%
Kontrollgruppe N=10
VerbesserungVerschlechterungUnverändert
1=10% 1=10% 8=80%

Rhythmusmustererkennung:

50 Prozent der untersuchten Patienten zeigten eine regelrechte Rhythmusmustererkennung bei der Diagnosenstellung. Durch die Hörwahrnehmungstherapie liessen sich 45 Prozent der Patienten sich diesbezüglich verbessern.

Rhythmusmustererkennung

Kinder mit zentraler Fehlhörigkeit N=38

VerbesserungVerschlechterungUnverändertNormal
17=44,7% 0=0% 2=5,3% 19=50%
Kontrollgruppe N=0
VerbesserungVerschlechterungUnverändert
1=10% 1=10% 9=90%

Richtungshören:

Das Richtungshören liess sich nur gering ( in 13 Prozent der Fälle) verbessern. Auffallend war das 87 Prozent der Patienten diesbezüglich unauffällig waren.

Richtungshören

Kinder mit zentraler Fehlhörigkeit N=38

VerbesserungVerschlechterungUnverändertNormal
5=13,2% 0=0% 0=0% 33=86,8%
Kontrollgruppe N=0
VerbesserungVerschlechterungUnverändert
0=0% 0=0% 10=100%

Unbehaglichkeitsschwelle

In 32 Prozent der Fälle ergab sich eine erhöhte Toleranz gegenüber lauten Tönen. Allerdings zeigten 66 Prozent der Kinder mit zentraler Fehlhörigkeit in diesem Kriterium eine unauffällige Unbehaglichkeitsschwelle(<80 dB)

Unbehaglichkeitsschwelle

Kinder mit zentraler Fehlhörigkeit N=38

VerbesserungVerschlechterungUnverändertNormal
12=31,5% 0=0% 1=2,6% 25=65,8
Kontrollgruppe N=0
VerbesserungVerschlechterungUnverändert
0=0% 0=0% 10=100%

Dichotische Hören

53 % der Patienten zeigten eine hochsignifikante Verbesserung des dichotischen Hörens.

Dichotische Hören

Kinder mit zentraler Fehlhörigkeit N=38

VerbesserungVerschlechterungUnverändertNormal
20=52,6% 0=0% 9=23,6% 10=26,3%
Kontrollgruppe N=0
VerbesserungVerschlechterungUnverändert
0=0% 0=0% 10=100%

Auditive Analyse

Nur bei 3 Prozent fand sich eine normale auditive Analyse der vorgegebenen Mehrsilber. In 53 Prozent liess sich eine hochsignifikante Verbesserung der auditiven Analyse erreichen.

Auditive Analyse

Kinder mit zentraler Fehlhörigkeit N=38

VerbesserungVerschlechterungUnverändertNormal
20=52,6% 2=2,6% 8=21,0% 10=2,6%
Kontrollgruppe N=0
VerbesserungVerschlechterungUnverändert
0=0% 0=0% 10=100%

Diskussion

Während die Begrifflichkeit der Phonemdiskrimination, der Hörmerkspanne, der auditiven Analyse und Synthese, das dichotische Hören, die Rhythmusmustererkennung und die Unbehaglichkeitsschwelle und das Richtungshören relativ klar umrissen ist, finden sich bezüglich der Ordnungsschwelle deutlich unterschiedliche Angaben. Hier wurde in Anlehnung nach Maier und Keilmann [1] der Begriff definiert.
Definition der Ordnungsschwelle: Die zentralnervöse Verarbeitung von Sinneseindrücken unterliegt einer natürlichen Begrenzung. So können beispielsweise zwei akustische reize, die zeitlich versetzt einem Probanden per Stereo-Kopfhörer appliziert werden (ein Klickreiz links, dann- nach definierter zeitlicher Verzögerung- ein zweiter Klickreiz rechts, und v.v.), nur dann von der Versuchsperson als separat applizierte Reize perzipiert werden, wenn der Inter-Stimulus-Intervall(ISI) einen Minimalwert überschreitet. Dies bezeichnet den Fusionswert bzw. der Fusionsschwelle, die nach Spitznagel für erwachsene Probanden 2 bis 4 ms beträgt von anderen Autoren mit 3 bis 30 ms angegebenen wir und die für Kinder in dem o.g. Alter bis zu 80 ms nach Sommer-Stumpenhorst, Tremmel, Rosenkötter [2].
Die Überprüfung der Ordnungsschwelle ergab deutliche interindividuelle Abweichungen von den in der Literaturangaben gefundenen Normwerten. Dies trifft überein mit den Beobachtungen von Maier und Keilmann [1]. Bedeutender scheint somit der Verlauf der Ordnungsschwelle nach übenden Verfahren intraindividuell zu sein.


Zusammenfassung

Die Hörwahrnehmungstherapie, welche täglich durch die Eltern als Kotherapeuten durchgeführt wurde, zeigte deutliche Verbesserungen in der Hörwahrnehmung, welche sich durch audiometrisch-logopädische Messverfahren verifizieren liess. Diese Therapie erfolgte mit apparativen Hilfsmitteln in Form eines Lateralenhochtontrainers und einer Gerätes zum Trainieren der Ordnungsschwelle. Täglich wurde 30 Minuten eine angeleitete Therapie durchgeführt. In den ersten 6 Wochen erfolgte eine Musikphase und danach eine Sprachphase. Die Phonemdiskrimination und die Hörmerkspanne ließen sich an stärksten positiv beeinflussen. Starke Verbesserungen wurden auch bezüglich der Ordnungsschwelle erreicht. An 3. Stelle der Reihenfolge der Beeinflussbarkeit steht das dichotische Hören und die auditive Analyse mit 53 Prozent Verbesserungen. An 4. Stelle findet sich die Rhythmusmustererkennung nach Breuer und Weuffen. Die Unbehaglichkeitsschwelle ist nur in 34 Prozent der Patienten auffällig und das Richtungshören nur bei 13 Prozent.
Die positiven objektiven Ergebnisse werden durch subjektive Angaben der Eltern unterstützt, welche eine Verbesserung der Konzentration, des Lernverhalten und der schulischen Leistungen angeben konnten.

Literatur

[1] Maier R und Keilmann A (1997) Die Ordnungsschwelle und die Bewertung zentral auditiver Leistungen-Untersuchungen zur Zeitstruktur kognitiver Prozesse. Aus: Gross M Aktuelle phoniatrisch-pädaudiologische Aspekte 1997/98 Band 5, 300-304
[2] Sommer-Stumpenhorst 1996, Tremmel 1996, Rosenkötter 1997)
[3] Spitznagel A und Macek U (1994) Auditiver Fusionspunkt bei Nichtsprachauffälligen und Sprachauffälligen verschiedener Altergruppen. Forschungsbericht. FB Psychologie/Sprachpsychologie. Gießen.
[4] Uttenweiler V (1980) Dichotische Diskrimination differenzierter Schallbilder bei Kindern zwischen 5 und 8 Jahren. Sprache Stimme Gehör 62-64
[5] Uttenweiler V (1996) Diagnostik zentraler Hörstörungen, auditiver Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstörungen, Sprache Stimme Gehör 20, 80-90
[6] Uttenweiler V (1999) Verarbeitung des Gehörten. Z Audiol, Supplementum II 73-74
[7] von Wedel H (1999) Ordnungsschwellen und binaurale Interaktion im Hinblick auf Diagnostik und Therapie. Z Audiol, Supplementum II 79-85
[8] Warnke F (1993) Die menschliche Ordnungsschwelle Forum Logopädie 4 (30-33)


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Dr. med. W. Lambeck

Parkstrasse 41 - 41061 Mönchengladbach